Warum Herr Matuschek nicht motzen kann

eine Geschichte in SELTSAMER ZEIT 

(von Petra Schroeder)

 

Ein Maulwurf braucht Gewohnheit

Vorsichtig blinzelt der Maulwurf Herr Matuschek in die strahlende Sonne. Gerade hat er sich aus der Erde gegraben. Die klebt noch feucht und kalt zwischen seinen Pfoten. „Was ist hier los?“ fragt er sich, „alles ist so still!“ 

Langsam lässt er sich in seinen Erdhaufen zurück rutschen. „Probieren wir es gleich noch einmal!“, denkt er und nimmt Anlauf. „Ruuuuhhheee!“, brüllt er, als er den Kopf erneut aus der Erde streckt.

Aber es bleibt alles still. „Das kann doch nicht sein!“ Herr Matuschek ist ganz verwirrt. Sein Frühling beginnt doch jedes Jahr gleich: Vom Geschrei der Kinder aus dem Schlaf gerissen werden, sich wütend mit den Schaufeln durch die noch sehr kalte Erde buddeln, empört einen Haufen aufwerfen, den Kopf heraus strecken und „Ruhe“ schreien, dann noch fluchen und schimpfen, weil niemand auf ihn hört und so weiter.

Diesmal bleibt alles still. Es ist niemand da. Nicht einmal der Hausmeister, der sonst den Schulhof fegt, lässt sich blicken. 

Herr Matuschek wundert sich. „Wo sind denn alle?“ In den vielen Jahren, in denen Herr Matuschek nun als Schulmaulwurf im kleinen Garten zwischen den Gebäuden der Grundschule wohnt, ist das noch nicht vorgekommen. Jedes Jahr im Herbst zieht er sich erschöpft zurück, um dann im Frühling seinen schwarzen Samtanzug zu bügeln, die Gummistiefel zu polieren, den Helm aufzusetzen und die Brille zu putzen. So vorbereitet schlummert er dann auf dem Sofa, um beim ersten Geschrei der fröhlichen Schulkinder aus der Haut und aus der Erde zu fahren.

Etwas steif klettert er auf seinen Hügel und lässt sich die Sonne auf das Bäuchlein scheinen. „Gar nicht so schlecht“, denkt er „himmlische Ruhe, ein warmer Bauch und einen guten Regenwurm zum Frühstück! Was kann es Besseres geben?“ Er schaut sich um, aber nicht einmal ein Regenwurm lässt sich blicken.

Stunden vergehen, aber nichts passiert. Da wird es Herrn Matuschek zu bunt.

Gelangweilt krabbelt er in seinen Bau zurück und schließt die knarrende Tür

seiner Baumwurzelschaltzentrale auf. Über das Baumwurzelnetz ist er mit der ganzen Welt verbunden, na eigentlich nur mit seinen Freunden hier im Haus, aber das muss ja keiner wissen.

Er kurbelt am Schneckenhaus, hockt sich umständlich vor den

Glasscherbenbildschirm, setzt sich den Bucheckernköpfhörer auf und startet die Verbindung. Es dauert ein wenig, bis die Verbindung steht, die Technik ist etwas veraltet.

„Hallo!“, brüllt er in den Hörer, „Madame Lerat?“ Auf der Glasscherbe erscheint das Bild einer dicken, schnuppernden Nase mit langen Barthaaren. Große Knopfaugen und kleine Ohren kommen zum Vorschein. Eigentlich ist Madame Lerat eine gewöhnliche Kanalratte, was sie jedoch nicht hören möchte. Um ihre französische Herkunft zu unterstreichen, trägt sie ein kleines Hütchen mit Federn auf dem Kopf und lange Handschuhe bis zu den Ellenbogen. Leider sind die schon verschlissen und haben kleine Löcher – das kommt vom Buddeln und Krabbeln - aber Madame Lerat lässt sich davon nichts anmerken. „Was kann isch för Sie tun, mon ami?“, fragt sie und säuselt dabei schrecklich. 

„Hier stimmt was nicht“, plappert Herr Matuschek los, „es ist absolut still! Die Kinder sind nicht da, keiner ist da und ich…ich hab keinen Grund zu motzen! Das kann nicht sein! Ich motze immer, wenn der Frühling beginnt!“

„Nun beruhigen Sie sisch doch, mon ami! Genießen Sie die Ru-e! Isch fönde es herrlisch, -immlisch! Endlich mal ohne Krach und Zank, Ärger und Streit! Nur

-armonie!“

Herr Matuschek sagt eine Zeit lang nichts. Plötzlich brüllt er aufgewühlt: „Das geht nicht, hören Sie Madame Lerat, das ist nicht so gedacht! Ich muss motzen, wenn der Frühling beginnt, ich will motzen, wenn der Frühling beginnt, ich kann ohne motzen nicht sein, …. ich …ich….ich vermisse sie!“, schluchzt er schließlich. „Wen vermissen Sie, mon ami?“, kommt es erstaunt vom anderen Ende der Leitung. „Na, die Kinder!“, Herr Matuschek muss beinahe weinen. „Die Kinder eben!“ „Das ist doch nicht Ihr Ernst, mon ami, die kleinen Schreiälse?“ Madame Lerat ist verwundert. „Seien Sie froh, dass es still ist, kein Gemecker, kein Gezanke, keine lauten Türen, keine Tritte, kein Gepolter, kein Gesinge….! Still, einfach still! Wunderbar!“ und beinah vergisst Madame Lerat ihren französischen Akzent.

„Gar nichts ist wunderbar!“, schimpft Herr Matuschek. „Ich bin ein Maulwurf und ein Maulwurf braucht Gewohnheit! Was soll ich tun, wenn ich mich nicht mehr ärgern und aufregen kann? Ich habe keine Aufgabe mehr. Nur graben, ohne dabei gestört zu werden, macht einfach keinen Spaß, verstehen Sie Madame? Ich muss das ändern.“ 

Dann macht er eine Pause: „Aber wie?“

 

Das Maulomobil

„Das ist doch ganz einfach, mon ami,“ säuselt Madame Lerat, „isch komme zu Ihnen erüber und wir suchen die Kinder. Die müssen ja irgendwo sein. Wollen wir doch mal sehen, was die gerade so treiben. Sind sie dabei? Wir machen einen klitze kleinen Ausflug, da finden wir sie bestimmt.“

Herr Matuschek überlegt. Dann blitzen seine kleinen Knopfaugen auf:

„Natürlich bin ich dabei, Madame, und wie! Wir treffen uns am Eingang von Abflussrohr Nr. 7, rechte Mauerecke an der Turnhalle. Sie wissen Bescheid oder? Spezialauftrag, Spezialausrüstung… geben Sie mir 15 Minuten!“

„Immer mit der Ru-e“, will Madame Lerat noch sagen, aber das hört Herr Matuschek schon nicht mehr.

Blitzschnell flitzt Herr Matuschek in seinen Bau. Dort krabbelt er weit nach unten hinab. Sehr weit, bis er vor einer alten, verstaubten Tür steht. Feierlich holt er seinen großen Schlüsselbund heraus und steckt ihn ins Schloss.

Knarrend und ruckelnd geht die Tür auf. Und da steht es, das ultimative Maulomobil, bereit für den Tag der Tage, bereit, wenn die Welt es brauchen würde, das Mobil und natürlich Herrn Matuschek. So schnell, wie dieses Mobil, kann keine Maschine der Welt die Erde bewegen, Tunnel graben und Röhren bauen. Sie ist ein wahres Wunderwerk der Technik und sie würde nun gebraucht werden. Endlich!

Mit stolzer Miene zieht Herr Matuschek die Plane herunter. Wow, das Maulomobil ist noch genauso schön glänzend wie damals, als sein Onkel James ihm das Fahrzeug übergab. James Matuschek war lange Zeit Geheimagent gewesen, immer auf der Spur des Bösen, immer den Tätern auf der Schliche. So manches Mal war er mit dem Maulomobil durch die Tiefen der Erdschichten gesaust, hatte Kubikmeter an Schlamm, Geröll und Steinen beiseite geräumt, um schließlich die Gauner zu stellen und zur Strecke zu bringen. Ein wahrhafter Held, bis ihm eines Tages beim Aussteigen die Brille von der Nase fiel und in den großen rotierenden Schneidwerkzeugen, die vorn am Bug befestigt waren, mit Klirren und Scheppern verschwand. Aus die Maus! Nein, Schluss mit lustig. Wie ihr alle wisst, sind Maulwürfe ohne Brille stockblind. So blieb ihm also nichts weiter übrig, als sich zur Ruhe zu setzen und sein Maulomobil an seinen Neffen, Herrn Matuschek, weiter zu geben.

Wie lange nun hat Herr Matuschek auf einen solchen Moment gewartet? Endlich würde er das Maulomobil durch die tiefe Erde steuern und sehen, wozu es sonst noch fähig war. Rasen, tauchen und schwimmen, ja sogar fliegen – wenn der Treibstoff ausreicht.

Herr Matuschek ist sehr gespannt. Zitternd vor Aufregung schlüpft er in den glänzenden Anzug, zieht den Bauch ein, damit der lange Reißverschluss zu geht, streift gekonnt die Handschuhe über seine riesigen Grabepfoten und hält bedeutungsvoll den schweren Helm unter dem Arm. Dort steht er, wie ein Astronaut, der zum Mond aufbricht und bestaunt sein Spiegelbild auf dem silbernen Lack des Maulomobils. Er ist begeistert.

Dann steigt er in das Mobil, steckt den Schlüssel ins Zündschloss und horcht

auf. Mit einem donnernden Getöse braust der Motor auf und die

Schneidwerkzeuge beginnen, sich langsam zu drehen. Sie werden schneller, immer schneller und Herr Matuschek fährt an, geradewegs auf die vor ihm liegende Wand zu. Polternd fliegt die aufgewühlte Erde herum und Herr Matuschek grinst vor sich hin. „Herrlich, ein wirklich erhabenes Gefühl!“, denkt er. Da gibt es wirklich nichts zu motzen. Wie durch Butter schneidet sich das Gefährt durch den Boden und in Sekundenschnelle erreicht Herr Matuschek die Ecke der Turnhalle und das Fallrohr Nr.7, also den verabredeten Treffpunkt mit Madame Lerat. 

Zu Matuscheks Erstaunen ist die alte Dame schon da und wedelt mit ihrem Federhütchen. „Blödes Hütchen!“, denkt Herr Matuschek abschätzig, „Hier muss man fachmännisch gekleidet sein!“ und schaut dabei stolz an sich selbst herunter.  

„Madame Lerat, zu Diensten!“, tönt Herr Matuschek, als er aussteigt, Madame Lerat den zweiten Helm reicht und den passenden Astronautenanzug in Silber dazu. Madame Lerat schaut geringschätzig, schlüpft aber flink in den Anzug und zieht den Reißverschluss ohne weitere Anstrengung zu. Dann nimmt sie eine Feder vom Hut, setzt den Helm auf den Kopf und befestigt die Feder an der Außenseite des Visiers. Die Handschuhe lässt sie, wo sie sind. 

„Auf geht’s!“, ruft Madame Lerat, als beide angeschnallt im Maulomobil hocken. „Geben Sie Gas, mon ami!“ 

Die Kinder und das Kuscheldings

Gerade will Herr Matuschek auf das Gaspedal treten, da hält er inne: „Madame Lerat?“, fragt er leise, „Warum sind alle Kinder weg? Wo sind sie geblieben und warum sind sie nicht in der Schule und ärgern mich im Schulgarten?“

„Oh, mon ami“, sagt Madame verwundert, „das wissen Sie nischt? Ja hören sie denn kein Baumwurzelradio oder lesen die Maikäferpost? Es ist die SELTSAME ZEIT ausgebrochen. In der SELTSAMEN ZEIT ist etwas zu uns gekommen, ein Dings, dass krank macht, so klein, dass wir es nicht sehen können, aber doch für

viele Menschen gefährlich. Es geht von Mensch zu Mensch. Mansche Menschen bekommen nur einen Schnupfen, aber manche werden so krank von dem Dings, dass sie ins Krankenhaus müssen. Das ischt wirklich un-erört.“

„Aha“, sagt Herr Matuschek, „Und die Kinder haben ihm den Kampf angesagt? Sie sind losgezogen, um das Dings zu suchen und zu vernichten?“ 

„Na ja, das geht nicht so, wie Sie sisch das denken. Es geht nur weg, wenn sisch die Menschen nischt zu nahe kommen.“ „Versteh ich nicht“, grübelt Matuschek, „ich dachte, dass die Menschen sich doch brauchen und lieben, auch wenn die Kinder häufig streiten. Am Ende vertragen sie sich doch immer wieder.“

„Ja, aber diesmal ist es anders. Das Dings ist so -eimtückisch, dass es gerade das Kuscheln braucht, um noch größer und gefährlicher zu werden. Isch nenne es daher immer „Das gefährlische Kuscheldings.“ „Und was machen die Kinder dagegen?“, fragt Matuschek nachdenklich. „Das Einzige was hilft: Sie bleiben zu -ause, kommen nicht zur Schule, gehen einzeln zum Einkaufen und grüßen sich nur aus der Ferne. Wenn sie sisch nischt berühren, hat das Kuscheldings keine Chance und mehr Menschen bleiben gesund.“ „Und das halten die Kinder aus? Die wollen doch immer kuscheln?!“ „Ja, ja“, schmunzelt Madame Lerat, „Kinder sind sehr tapfer und sehr vernünftig und sehr weise und sehr … Sie wissen schon. Zumindest, wenn es darauf ankommt. Dann sind sie oft viel schlauer als die großen Leute.“ „Da haben Sie wohl Recht“, meint Matuschek, obwohl er sich genau vorstellen kann, welche sinnlosen Streitereien und gemeinen Dinge sich die Kinder sonst antun. „Und wir, was können wir tun, Madame?“ „Wir fahren sie jetzt besuchen.  Wir sehen einfach nach, was die Kinder den ganzen Tag machen und wie es Ihnen geht. Vielleischt macht sich eines Sorgen oder -at

Angst, vielleischt hat eins auch viel Spaß mit seiner Familie oder auch viel Ärger zu-ause. Das wird eine tolle Reise. Auch für Sie mein Lieber! Wäre doch gelacht, wenn Sie sisch nischt -ier und da ein bisschen ärgern und aufregen können, mon ami, ja? Sonst werden Sie mir noch krank, aber nicht von dem Kuscheldings, sondern nur, weil Sie sisch nischt aufregen und nischt motzen können und das muss isch dringend ver-indern.“

„Bin ich wirklich soo schlimm, Madame?“, fragt Matuschek lächelnd.

„Natürlisch, schlimmer!“, sagt Madame Lerat, „aber isch liebe diese kleine Macke an I-nen.“ Da müssen beide schallend lachen, und ihr Lachen wird nur übertönt vom lauten Getöse, als sich das Maulomobil in Gang setzt.

„Welche Route soll ich ins Navi eingeben“, fragte Madame Lerat? „Wen besuchen wir zuerst?“

Die Reise beginnt……